EIN LEBEN OHNE KUNST IST MACHBAR, ABER SINNLOS. ÜBER DIE NOTWENDIGKEIT, KUNSTWERKE ZU LIEBEN
Dorothea Strauss

Miami, Dezember 2007. Christoph und ich schlendern den Gang auf der Kunstmesse entlang, es ist Preview. Wir sind zum ersten Mal auf der Art Basel Miami. Ich bin fragil; meine Mutter ist wenige Monate vorher gestorben. Doch ich geniesse den Trubel. Die aufgeladene Stimmung, die Sonne in Miami, das ganze Tamtam – all das kommt mir gerade recht. Noch kein Börsencrash in Sicht, zumindest spürt noch niemand den drohenden Tsunami. Heissblütige, hungrige Kunstkäufe. „Five million?“, höre ich jemanden in breitem Texanisch fragen. „Great, no problem.“
Wir laufen auf den Stand der Galerie Kerstin Engholm zu. Seit meiner Ausstellung mit Dirk Skreber im Kunstverein Freiburg sind wir lose befreundet. Ich sehe Kerstin schon von weitem, offenes Lachen, heiter, sie spricht mit jemandem, hat uns noch nicht erblickt. Dann macht sie einen Schritt auf eine zweite Person zu und gibt den Blick frei und wir schauen direkt auf ein schwarzes Bild, mittlere Grösse, Hochformat. Im Zentrum des Bildes steht auf dem Fussboden eine Tischleuchte, daneben so etwas wie eine Kiste mit einem Tuch darüber, alles in Schwarz-Weiss gemalt. Magisch. Intensiv. Wir gehen auf das Bild zu. Ich sage nicht einmal Hallo zu Kerstin, kann meinen Blick nicht abwenden.
Das Bild ist von Drago Persic. Wir haben es sofort gekauft und mitgenommen, später auf die Buchenegg, in unser Haus. Seitdem hängt es dort, gleich neben dem grossen schwarzen Fuss von Gaetano Pesce. An der anderen Wand ein frühes Bild von Lucy Stein, schräg gegenüber ein grosses Gorillaporträt von Hanspeter Hofmann. Ich liebe diese Ecke in unserem Haus. Sie beruhigt mich, wenn ich nicht weiterweiss. Sie hilft mir, wenn die Wellen über mir zusammenschlagen. Christoph und ich sind keine klassischen Kunstsammler. Wir sind im Herzen Weltenbummler, die trotzdem seit vielen Jahren an einem Ort leben. Kunstwerke sind für uns Freunde auf der Reise durchs Leben.
Wenn ich mich auch von vielen Werken trennen könnte – niemals von meinem Bild von Drago Persic. In den vergangenen Jahren habe ich oft darüber nachgedacht, warum es mir so sehr am Herzen liegt. Was es für mich bedeutet. Seine magische An-ziehung auf mich bleibt irgendwie rätselhaft, undurchschaubar. Einige Gründe verstehe ich, kann ich benennen, aber sie erklären es eben nicht ganz.
Dem Zauber auf die Spur kommen
Manchmal ist die Begegnung mit einem Kunstwerk wie die mit einem Menschen, den man in einem ganz besonderen Moment im Leben trifft. Man sieht sich in diesem Moment ganz genau, man schaut sich direkt ins Herz. Obwohl solche Begegnungen mitunter nur kurz sind, kommt man sich dennoch unbeschreiblich nah. Wie ein Blitz schlägt es ein. Es ist der Moment höchstmöglicher Intimität, die Gefühle verschmelzen. Ein unsichtbares Band entsteht, und dieses Band kann ein Leben lang halten. So geht es mir mit dem Bild von Drago Persic. Und natürlich ist das Bild geblieben, auch physisch, nicht nur mental. Es ist mein ständiger Begleiter geworden. Ich weiss, dass es immer da ist. Es hängt an unserer Wand und entwickelt von dort aus seine Kraft in meinem Unterbewusstsein. Manche Kunstwerke haben diese Kraft, sie sind wie ein Sicherungsseil, ein Geländer oder ein Netz, das einen auffängt.
Ein Grund, warum mir das Bild von Drago Persic so nah ist, wurzelt in meiner Jugend. Es hängt mit dem Gemälde Der Absinthtrinker von Édouard Manet zusammen. Ich war 22, als ich das Gemälde zum ersten Mal sah, in einer grossen Übersichtsausstellung im Grand Palais in Paris.
Der Absinthtrinker war das erste Bild, dass Manet beim Salon de Paris eingereicht hatte, es wurde damals jedoch abge-lehnt. Trinksucht und Armut auf einem grossen Gemälde fest-zuhalten, das war für die Kommission 1859 zu viel. Doch Manet spornte die Ablehnung nur an, wiewohl er sicher auch sehr verletzt war. Ich habe ihn mir später, als ich mich während meines Studiums intensiv mit Manet beschäftigte und seinen Briefwechsel mit Charles Baudelaire las, immer als jemanden vorgestellt, der leicht dauerwütend war.
Ich ging damals durch die Ausstellung, und vor dem Absinthtrinker stand ich am längsten. Als ich in Miami Drago Persics Bild sah, katapultierte es mich regelrecht zurück ins Grand Palais. Was kann Kunst bewirken? Dieser Frage gehe ich seit diesem Aus-stellungsbesuch in Paris nach. Ich hätte damit auch schon früher beginnen können, denn ich komme aus einer Musikerfamilie, meine Eltern hatten viele Künstlerfreunde. Als Jugendliche aber interessierte ich mich eher für Mathematik, für Physik, das Universum und Schwarze Löcher. In der Ausstellung von Édouard Manet wendete sich das Blatt.
Also nochmals, was kann Kunst? Ich behaupte: Wer sich mit Kunst und Kultur beschäftigt, geht differenzierter durchs Leben. Erst neulich besuchte ich eine Generalagentur und neben mir sass später ein Versicherungsberater. Er war mir vorher schon aufgefallen, als ich vor der ganzen Crew eine Einführung in meine Arbeit hielt. Irgendwie war sein Blick anders, aufmerksamer. Und als er beim Mittagessen neben mir sass, bestätigte er meinen Eindruck: Schon seit Jahrzehnten sammelt er Kunst, schaut sich Ausstellungen auf der ganzen Welt an. Kunst macht uns aufmerksamer für Nuancen, Zwischentöne.
Wie auch immer. Kommen wir zurück zum Absinthtrinker. Der Mann, den Manet malte, hiess Colardet. Er sammelte tatsächlich Lumpen und bettelte oft vor dem Louvre. Manet traf ihn dort und bat ihn, ihm Modell zu stehen. Das also war ein ganz anderer Fall, als Victorine Louise Meurent, die Manet für die Gemälde Olympia, Frühstück im Grünen oder auch Die Eisenbahn Modell gestanden hatte und die später selbst Malerin wurde. Colardet war der, als den Manet ihn zeigte: ein gesellschaftlich Gestrandeter, gezeichnet von Alkohol und Not. Dieses Gemälde verrät subtil so vieles. Édouard Manet gelingt es, die Wirklichkeit seines Bildes zu öffnen wie die Büchse der Pandora, tiefsinnig, riskant, voller Unwägbarkeiten. Da ist das Dunkel der zu grossen Pelerine, das Dunkel des zu grossen Kastorhutes, überhaupt die Düsterkeit des Bildes, dazu das leichte Tippen mit dem Fuss, das irisierende Grün des Absinthes im Glas: All das zusammen schafft eine bedrohliche Atmosphäre. Doch nicht etwa der Dargestellte erscheint bedrohlich, nein, es ist das Leben selbst, das hier als eine Gratwanderung gezeigt wird. Eine Gratwanderung zwischen Hell und Dunkel, zwischen Versagen und Erfolg.
Was ist auf Drago Persics Bild eigentlich genau zu sehen? Wohin, in welchen dunklen Raum, entführt uns der Künstler? Was ist das für ein Tuch, was für eine Kiste? Findet hier vielleicht eine Räumung statt? Ist es ein Stillleben? Ein Vanitas-Bild?
Was auch immer wir hineininterpretieren – das Bild von Drago Persic bleibt ein Geheimnis. Die Szene ist realistisch gemalt, die Lampe eine Lampe, das Tuch ein Tuch, die Lichtquelle eine Lichtquelle, der Boden ein Boden. Und dann das tiefe Schwarz, das alles rätselhaft erscheinen lässt. Als ginge es um eine verdeckte Realität, eine andere Wirklichkeit hinter der Realität. Die gesamte Szenerie wirkt metaphorisch aufgeladen. Wie ein nicht geführtes Gespräch, das dennoch präsent ist. Wie ein unausgesprochener Gedanke, der dennoch wirkt. Wie eine unsichtbare Fassung, eine Art Rahmung von etwas, das niemals geschehen wird. Doch anders als bei Manets Gemälde denke ich bei Dragos Arbeit nicht an die Büchse der Pandora. Sein Bild ist für mich wie eine Schatzkiste. So wie ich sie als Kind unter dem Bett hatte. Manchmal öffnete ich sie und strich andächtig über die Steine, die getrockneten Blätter, über all die Dinge, die der Erwachsenenwelt verborgen bleiben. Ich wusste damals nicht genau, was sie zu bedeuten hatten und wusste doch, es meint alles in der Welt. Sind Kunstwerke die Verlängerung unserer kindlichen Fantasie, in der alles möglich ist?
Was wir sehen blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes heisst der Titel eines Buches des französischen Kunst-historikers und Philosophen Georges Didi-Huberman. Es geht darin genau um die Beunruhigung, die ein Kunstwerk auslösen kann, die Aura, die es schafft, in der wir unser Denken ändern. Die kleine Tischlampe steht in Drago Persics Bild auf dem Boden. Dieser schwebt quasi im schwarzen Nichts. Dieses Nichts wird noch betont durch das Tuch. Alles in diesem Bild scheint zu sagen: Leuchte in den tiefen Raum hinein, schau hinter den Vorhang.
Wenn unser Sehnen zu einem Brennglas für unsere Gefühle, Empfindungen und tief verborgenen Überzeugungen wird, fangen wir an, und genau das kann ein Blick, uns zu verlieben. In einen Menschen – und manchmal auch in ein Kunstwerk. Wir schauen sie an und sie schauen zurück.
Kunstwerke wie Menschen können Wege ebnen, sich und das, was man tut, besser zu verstehen. Manchmal logisch, manchmal emotional, manchmal intuitiv.

Published 2019
ULTRAMARIN ULTRAMARINE OUTREMER
Verlag für moderne Kunst
ISBN 978-3-903320-03-1